Leseprobe aus

 

Strandkorbküsse  im Schneegestöber

Weihnachtlicher Sylt-Roman

2023

 

 

 

 

 

Nebel verbarg den Ausblick aus meinem Fenster und ich konnte nur erahnen, dass es nach Süden hinaus ging, denn ein Hauch von Sonnenschein drängte sich durch die hellen Schwaden. Verdammt! Die Tage waren momentan so kurz und ich wollte doch heute in den Ort, nach Möglichkeit auch Annika und Maya einen Besuch abstatten.

In Windeseile flitzte ich also ins Bad, das mir ganz alleine gehörte und genoss eine heiße Dusche, die meine Lebensgeister weckte. 

Da ich nicht zu befürchten hatte, dass Gisela nach oben kam und ich gestern mitbekommen hatte, dass Agnieszka immer erst gegen Mittag auftauchte, konnte ich mich im Obergeschoss frei bewegen. Nur mit einem Handtuch um meine nassen Haare kam ich also aus dem Badezimmer zurück. Doch schon nach zwei Schritten erstarrte ich: Ein leiser Pfiff erklang und ich ahnte, dass ich hier oben keineswegs alleine war: Mitten auf dem Flur stand ein Kerl mit blonden, ziemlich wilden Haaren und einem Vollbart und starrte mich grinsend an. 

Erschrocken kreischte ich auf und versuchte, mit den Händen meine Blöße zu bedecken. Dann zerrte ich mir das Handtuch vom Kopf, was gar nicht so leicht war, da ich es fest herumgeschlungen hatte und wickelte mich darin ein. Natürlich war es viel zu klein, ich konnte nur entweder die obere oder die untere Körperhälfte damit bedecken. 

Das Grinsen auf dem Gesicht des zottigen Wikingers schien mit jeder Sekunde breiter zu werden. Zumindest vermutete ich, dass er grinste, denn der Bart ließ nicht allzu viel von seinem Mund erkennen.

»Moin.«

»Scheiße!«

Unsere vollkommen gegensätzlichen Äußerungen kamen uns synchron über die Lippen. Doch so witzig die Situation vielleicht für Außenstehende sein würde: Ich konnte gerade überhaupt nichts Lustiges daran finden. 

Immer noch schockiert, flitzte ich an dem Mann vorbei, dem ich zugestehen musste, dass er auf eine raue Art äußerst attraktiv aussah. Er war mindestens eins-neunzig groß, besaß breite Schultern und trug eine schwarze Arbeitshose, mit zahllosen Taschen. Das ebenfalls schwarze, verboten eng sitzende Hemd, das am Kragen einige Knöpfe weit offenstand, bildete einen aufregenden Kontrast zu dem goldblonden Bart und den Haaren. Seine Frisur könnte mal wieder einen Schnitt vertragen, denn ich spürte den Drang, mit meinen Fingern hindurchzufahren und Ordnung in die langen, wie von der Sonne ausgeblichen wirkenden Strähnen, zu bringen.

Erstaunlich, was ich in wenigen Sekunden aufzusaugen imstande war! 

»Was gibt´s denn da zu glotzen?«, motzte ich ihn unwirsch an und drängte mich an ihm vorbei. Schließlich stand er mitten im Flur, genau zwischen dem Bad und meinem Zimmer. Ja, es war mein Zimmer, zumindest so lange, wie Gisela mich hier haben wollte und, bis eben, hatte ich mich alleine und vollkommen ungestört geglaubt.

»Ne Menge«, gab er immer noch grinsend zurück. Ich schnaubte wütend und erreichte die rettende Zimmertür. Mit einem Sprung war ich drin und knallte sie hinter mir zu. Erschöpft wie nach einem Marathon lehnte ich mich von innen dagegen. Im Flur erklang ein dunkles, amüsiertes Lachen. »War nett, dich kennenzulernen!«

Echt jetzt? Der Typ fand das wohl auch noch amüsant. Und ich? Ich musste da gleich wieder raus, angezogen natürlich. 

Was tat er hier überhaupt? Obwohl ich anscheinend unerwartet viel von seiner Optik mitbekommen hatte, konnte ich mich überhaupt nicht daran erinnern, ob er Werkzeug in der Hand gehalten hatte und wenn ja, welches. Reparierte er gerade eine Lampe oder malerte er? 

Nein, Maler trugen Weiß, so weit ich wusste. Er hatte diese heißen, ähm, gutsitzenden schwarzen Klamotten an. Dachdecker? Wohl eher nicht, es sei denn, es gab vom Flur aus einen Zugang zu Giselas Dach.

Nun, wenn er kein Handwerker von der besonders schnellen Sorte und bis dahin mit seiner Arbeit fertig war, würde ich ihm wohl oder übel gleich noch einmal über den Weg laufen müssen. Denn noch länger konnte ich Gisela wirklich nicht auf mich warten lassen. Also rubbelte ich schnell meine Haare trocken und zog mir dann, im Kontrast zu meiner Blöße eben, so viel wie möglich an: Robuste schwarze Jeans, einen weißen Rollkragenpulli über einem Langarm-Shirt und meine Stiefel. 

Wenn es mir möglich gewesen wäre, hätte ich mir auch noch eine Wollmütze auf den Kopf gesetzt und tief in die Stirn gezogen, um dem wissenden Blick zu entgehen, der mich garantiert erwartete.

Und Tatsache: Als ich die Tür so souverän wie möglich wieder öffnete, stand er da immer noch und fummelte an etwas herum, das nach einem Stromkabel aussah. Erst wollte ich wortlos an ihm vorbeigehen, doch dann siegte meine Neugier.

»Sind Sie Elektriker?«

»Nein.«

Okay, damit lag ich also anscheinend falsch, obwohl er ein Kabel mit offenem Ende in seinen Händen hielt.

»Und was tun Sie dann hier, im Haus meiner Urgroßmutter?« 

Das letzte Wort betonte ich besonders scharf, um darauf hinzuweisen, dass ich, im Gegensatz zu ihm, durchaus berechtigt war, mich in der oberen Etage dieses Hauses aufzuhalten.

»Meinen Job.« 

Er hob nicht einmal den Blick von dem schmalen Schraubenzieher, mit dem er gerade in aller Seelenruhe das Kabel mit einer Halterung zu verbinden versuchte. Ratlos sah ich nach oben. Die Deckenverkleidung war direkt über ihm abgenommen worden und eine alte, gelbliche Lampe baumelte von dort hinab.

»Und der wäre?«

»Jedenfalls nicht bis zehn Uhr schlafen und dann nackt über den Flur rennen, um arglose Handwerker zu Tode zu erschrecken.«

Ich schob die Unterlippe ein wenig vor. »Das hätte ich glatt vergessen, wenn Sie mich nicht daran erinnert hätten! Aber da ich hier im Urlaub bin, habe ich durchaus das Recht, auszuschlafen, so lange, wie ich will.«

»Soso.« 

Mehr kam erstmal nicht. Er schraubte konzentriert weiter, ehe er schließlich doch noch zu mir herübersah. 

Hätte er das lieber nicht getan! Der Blick aus den wasserblauen Augen war unglaublich intensiv. Mit einem Interesse, das ich beinahe körperlich spüren konnte, scannte er meine Klamotten und blieb dann an meinem Gesicht hängen. »Und jetzt wagst du dich raus in die raue Wildnis mit deiner Winter-Survival-Montur?«

»Wüsste nicht, was dich das angeht!« 

Automatisch waren wir beide zum Du gewechselt, was ja auch Sinn machte, denn altersmäßig lagen wir vermutlich nah beieinander. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig. 

»Aber falls es dich interessiert: Ich werde jetzt erstmal mit meiner Urgroßmutter frühstücken und dann einen Spaziergang zum Hafen machen.«

»Fein. Das klingt nach mächtig Spaß und einem echten Abenteuer.«

Ich rollte mit den Augen und ließ ihn einfach stehen. So ein Idiot! Er musste anscheinend immer das letzte Wort haben. Außerdem wurde es nun wirklich Zeit, dass ich nach unten kam. Ich eilte die Treppe hinunter und steuerte direkt das Wohnzimmer an.